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Im
Januar, an einem Anlass des Wörterseh Verlages, sass ich gegenüber
von Urs Rauber. Im Laufe des Gespräches entdecken wir unsere gemeinsame
Leidenschaft für die Bücher und er erzählte mir, dass er
als Redaktor für die Beilage "Bücher am Sonntag" der
NZZ verantwortlich sei. Mit seiner Einwilligung kann ich jetzt seine Besprechungen
hier übernehmen. Ganz herzlichen Dank!
Hier
ist nun die Erste vom 27. Januar 2013
Tony Judt/Timothy Snyder, Nachdenken über das 20. Jahrhundert
Hanser Verlag
416 Seiten
Fr. 34.90
Historiografie:
Timothy Snyder hat mit Tony Judt vor desen Tod Gespräche über
sein Leben und seine Zeit geführt - eine brillante Bilanz des 20.
Jahrhunderts
Geschichte ist der Sprache verpflichtet
Von
Urs Rauber Bücher am Sonntag vom 27.1.2013
Das vorliegende
Buch, schreibt Herausgeber Timothy Snyder, sei «Geschichte, Biografie
und moralphilosophische Abhandlung» in einem. In der Tat bietet
das 400 Seiten starke Werk eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts ebenso
wie einen Essay zum Reformbeitrag und zum Scheitern von Intellektuellen.
Die neun Kapitel orientieren sich an der Sozialisation und Lebensgeschichte
des britischen Historikers Tony Judt (1948–2010), der am Schluss
als Professor in New York lehrte.
2008 erhielt Judt die Diagnose von amyotropher Lateralsklerose, einer
degnerativen Nervenkrankheit, die zu fortschreitender Lähmung und
zum Tod führt. Timothy Snyder, 21 Jahre jünger und Geschichtsprofessor
in Yale, schlug daraufhin seinem Freund Judt vor, im ersten Halbjahr 2009
Gespräche über die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu führen.
Jeden Donnerstagmorgen fuhr Snyder mit dem Zug von New Haven nach New
York, bereitete sich in einem Café kurz vor, wusch sich in Judts
Wohnung die Hände mit heissem Wasser – «denn er fror
immer entsetzlich, und ich wollte ihm unbedingt die Hand geben».
Die aufgezeichneten Gespräche standen äusserlich unter dem Eindruck
des raschen körperlichen Zerfalls: Zu Beginn konnte Judt noch gehen,
später sass er im Rollstuhl und war an einem Beatmungsgerät
angeschlossen, schliesslich konnte er nur noch Kopf, Augen und Stimmbänder
bewegen. An inhaltlicher Klarheit und Präzision der Gedanken mangelte
es ihm jedoch überhaupt nicht. Alle von Snyder redigierten Kapitel
hat Tony Judt im Winter 2009/10 durchgesehen und zurückgeschickt.
Judt starb wenige Tage nach Abschluss des Manuskripts am 6. August 2010.
Intellektuelle Tour d’horizon
Timothy Snyder, der gegenüber dem ungeheuer belesenen Judt um Respekt
und Zurückhaltung bemüht ist, liefert Stichworte für eine
gemeinsame Tour d’horizon durch die britische Intellektuellenszene
der Zwischenkriegszeit (Stephen Spender, Christopher Isherwood, W. H.
Auden, Isaiah Berlin, George Orwell), in die Welt der französischen
Geisteselite von Simone de Beauvoir über Raymond Aron bis zu Annie
Kriegel, in die deutsch-österreichische Szene (Hanna Arendt, Arthur
Koestler, Manès Sperber, Sigmund Freud). Und natürlich führt
der Gang auch in die Welt bedeutender Ökonomen von John Maynard Keynes
über Friedrich Hayek zu Joseph Schumpeter sowie – grossartig
– ins Milieu der fünf sowjetischen Topspione in Grossbritannien,
den «Cambridge Five».
Judts Methode der Personen- und Werks-Charakterisierung wird am Fall des
kürzlich verstorbenen Eric Hobsbawm (1917–2012) deutlich. Liebevollkritisch
beschreibt Judt Hobsbawms lebenslange Anhänglichkeit an den Marxismus
und arbeitet zugleich die kulturellen Unterschiede des britischen zu den
kontinentalen Milieus heraus: «Für seine politische Haltung
wäre er in der einen Hälfte der Welt mit dem Ausschluss aus
der akademischen Welt und allen Formen des öffentlichen Lebens bestraft
worden. In der anderen Hälfte wäre sein Eintreten für den
Kommunismus ein Vorteil oder ein Nachteil gewesen, vermutlich eher beides
in rascher Folge.» In England verlor Hobsbawm zwar seinen Lehrstuhl
in Cambridge, konnte aber problemlos an ein Londoner College wechseln.
Das Gesprächsbuch präsentiert sich als anregende Plauderei über
Gesellschaft, Geschichte und Einzelpersönlichkeiten – darunter
Staatsmänner, Literaten, Künstler und Kirchenleute (auch Karol
Woytila erhält eine Würdigung).Viele Einsichten sind nicht neu,
aber mit einleuchtenden Beispielen konkretisiert. Etwa die Erklärung
dafür, warum der Kommunismus in katholischen und orthodoxen Ländern
so viel besser funktioniere als in protestantischen: weil gemäss
Antonio Gramsci die Partei Religionsersatz biete inklusive Hierarchie,
Elite, Liturgie und Katechismus.
Der Marxismus sei die «säkulare Religion». Auf der anderen
Seite steuert Snyder seinen Gesprächspartner auf die Frage zu, was
den faschistischen Intellektuellen ausmache und wie die unterschiedlichen
europäischen Ausprägungen des Faschismus zu erklären seien.
Seminare in Kandersteg
Judt selbst war bereits im Elternhaus als 15-Jähriger zum Trotzkismus
hingeführt worden. Mit 18 wurde er Zionist, der in Israel im Kibbuz
lebte und als Freiwilliger am Sechstage-Krieg teilnahm. Wenn er sich später
kritisch mit Israels Politik auseinandersetzte, wurde er von amerikanischen
Juden stets harsch kritisiert. Als Historiker begann Judt die in den 1970er
Jahren aufkommende Sozialgeschichtsschreibung als «platt und undifferenziert»
zu kritisieren, obwohl er sie in Berkeley unter dem Einfluss seiner zweiten
feministisch gesinnten Frau «im Grunde gegen meine eigenen Interessen»
selber lehrte.
Später lernte er Tschechisch und unterrichtete osteuropäische
Politik und Geschichte. «Die interessantesten liberalen Gedanken
kamen in den 1970ern aus Osteuropa.» 1995 gründete Judt an
der New York University das Erich- Maria-Remarque Institute als Forum
für jüngere Talente, das interdisziplinär angelegte Projekte
durchführt und den internationalen Gedankenaustausch pflegt. Das
New Yorker Institut führt bis heute regelmässig Seminare in
Kandersteg im Berner Oberland durch.
Entschieden wehrt sich Tony Judt gegen den Meinungsdruck und Modeströmungen
in der Historiografie: «Für viele Historiker ist Geschichtsschreibung
heutzutage eine Übung in angewandter politischer Polemik. Man will
etwas aufdecken, was in herkömmlichen Narrativen ignoriert wird –
eine bestimmte Interpretation der Vergangenheit zurechtrücken, weil
man in der Gegenwart Partei ergreifen will.» Das finde er deprimierend
und einen «Verrat an der Geschichtsschreibung». Gleichzeitig
hindert ihn dies nicht daran, in einem anderen Kapitel zu bekennen, er
sei ein «Moralist», der sich einmische, wenn es um politische
und staatsbürgerliche Fragen gehe – etwa bei der Ablehnung
des Irak-Krieges 2003.
Beide Gesprächspartner teilen die Auffassung, Geschichtsbücher
müssten gut geschrieben sein, sonst taugten sie nichts. Snyder ergänzt,
dass Historiker «der Sprache verpflichtet» sein und die handwerkliche
Qualität pflegen müssten. Geschichte sei ein narratives Fach.
Eines von vielen schönen Bildern, das im Buch geschildert wird, ist
jenes vom Historiker als Möbelpacker: «Unsere Aufgabe ist es,
den Leuten zu sagen: Das da ist ein grosses Sofa und kein Plastiktisch.
Wenn du glaubst, das ist ein Plastiktisch, dann irrst du dich und du wirst
dir nicht nur jedes Mal wehtun, wenn du dagegen läufst, du wirst
das Sofa auch in der falschen Weise benutzen. Du wirst schlecht in diesem
Zimmer leben, das muss nicht so sein».
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Urs Rauber
(* 1948 in Breitenbach SO) ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller.
Rauber besuchte
die Stiftsschule Einsiedeln und immatrikulierte sich anschliessend für
ein Studium der Geschichte, Publizistik und Neueren deutschen Literatur
an der Universität Zürich sowie der Ludwig-Maximilians-Universität
München. Dieses konnte er 1985 mit einer Dissertation über Schweizer
Industrie in Russland und damit verbundener Promotion abschliessen.
Erste journalistische
Erfahrungen sammelte Rauber bei einer Gewerkschaftszeitung. 1987 erhielt
er eine Anstellung beim Schweizerischen Beobachter. Für diesen arbeitete
er bis 2001 als Redaktor, ehe er in gleicher Funktion zur NZZ am Sonntag
wechselte. Zusätzlich obliegt ihm dort auch die Verantwortung für
die Beilage «Bücher am Sonntag».
Urs Rauber
ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in Zürich.
Tony Judt (* 2. Januar
1948 in London; † 6. August 2010 in New York war ein britischer
Historiker, der sich insbesondere mit der europäischen Geschichte
seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte. Er war seit 1995
Direktor des von ihm gegründeten Remarque-Instituts an der New York
University. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde Judt durch
sein Buch Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart (2005).
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