Persönlicher Tipp von Hans-Jakob Schmid, Luzern

Wladimir Kaminer, die Reise nach Trulala

   
Goldmann 2002
187 Seiten Fr. 30.70

In der ehemaligen Sowjetunion dürfen verdienstvolle Genossen nach Paris oder London reisen, Paris im Sommer, London im Herbst, wenn es zu regnen anfängt. Die saisonalen Einschränkungen sind nötig, weil ihnen ein potemkinsches Dorf irgendwo in der südrussischen Steppe vorgeführt wird. Onkel Boris wird der Parisbesuch zu einem unvergesslichen Erlebnis. Das wirkliche Paris besuchen Freunde des Icherzählers. Sie sind mittellos und wollen Geld verdienen. Einige geraten mit dem Gesetz in Konflikt und werden ausgewiesen. Das reelle Paris kommt in seinem Gehalt nicht annährend an das virtuelle heran. In einer anderen Geschichte profitieren Bewohner eines Dorfes auf der Krim vom berühmten Flugzeugabsturz im zweiten Weltkrieg des bekannten Malers Josef Beuys und von seiner Erzählung, dass er von der dortigen Bevölkerung freundlich aufgenommen und gesund gepflegt worden sei. Sie verkaufen deutschen Touristen Reliquien des Ereignisses: Teile des Flugzeuges, Stiefel des Künstlers, alles selbstgebastelter Ramsch, ja ein Mann gibt sich als Sohn von Beuys aus.
Eine amüsante, luftig geschriebene Reisegeschichte löst die andere ab. Beim Lesen verzichtet man bald auf die Frage: was ist nun wirklich passiert. Schein und Sein vermischen sich. Man schwimmt in einem Fluss von eleganten einfachen Sätzen, und man erlebt ständig neue komische Momente, etwa wenn sich Asylbewerber, die mit einem Hungerstreik den Aufenthalt in Dänemark erzwingen wollen, bitter darüber beklagen, dass sie immer die gleiche Suppe essen müssen.
Ein fabelhaftes Fabulierbuch des begabten in Berlin lebenden russischen Autors der "Russendisco".

Archiv
Juni 2002 Enrico Danieli
Juli 2002 Bernhard Gurtner
August 2002 Erhard Taverna
September 2002 Hansruedi Gehring
Oktober 2002 Bernhard Gurtner

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