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Der
Schweizer Fernsehmoderator, Journalist und Medienunternehmer Kurt Schaad
hat mir erlaubt, seine Buchbesprechung, die im April 2023 in der Zeitschrift
50plus erschienen ist, hier abzudrucken.
Vielen herzlichen Dank.
Christine
Brand, der Feind
Blanvalet
608 Seiten Fr. 22.50 Bitte
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Wenn grosse Träume wahr werden
Christine Brand gilt als eine der erfolgreichsten Schweizer Krimiautorinnen.
Ende April erscheint ihr fünfter Roman bei Blanvalet. Geschrieben
hat sie ihn auf Sansibar, das zur zweiten Heimat der Bernerin geworden
ist.
Kurt Schaad
‚Hurtig‘ ist eines ihrer Lieblingswörter. Hurtig etwas
erledigen. Hurtig etwas
recherchieren. Hurtig ins Meer springen, wenn am Laptop die Geschichte
gerade
nicht richtig fliessen will - und schon fliesst die Geschichte wieder.
Die Bernerin
Christine Brand schreibt so schnell wie sie spricht und widerlegt das
Stereotyp vom
langsamen Berner Dialekt. Sie ist so etwas wie eine personifizierte Schreib-
Maschine, schafft konzentriert fünf Buch-Seiten pro Tag. Und mindestens
ein Buch
pro Jahr. Hurtig, tifig, gleitig, schnell. Schreibstau kenne sie nicht
und sagt es mit
einem Lachen, aus dem das Staunen darüber herauszuhören ist.
Mit ihren Krimis ist sie, für eine Schweizer Autorin, ausserordentlich
erfolgreich. Bis
heute wurden ihre Bücher etwa 320‘000 mal verkauft. In Deutschland
und in der
Schweiz. Der Sprung in den deutschen Markt ist der Schlüssel zum
Erfolg. Die
Geschichten um die TV-Reporterin Milla Nova, den Polizisten Sandro Bandini,
die
Gerichtsmedizinerin Irena Jundt, den blinden Nathaniel oder Millas Cousin,
der in die
tiefsten Tiefen des Internets vordringt, schafften es in die deutschen
Bestsellerlisten.
Vorbild Henning Mankell
Früher hat sie sehr gern den schwedischen Erfolgsautor Henning Mankell
gelesen.
Er war ihr Vorbild. Bei ihm hat sie gelernt, was ein Cliffhänger
ist. Er lebte in
Mozambik und in Schweden und sie träumte, auch einmal so zu leben.
Jetzt ist
Sansibar ihre zweite Heimat. Jetzt lebt sie diesen Traum. Man müsse
im Leben
grosse Träume haben, weil grosse Träume wahr werden können.
Dabei hat sie das, was sie bislang machte, schon immer gern gemacht.
Lokaljournalistin, Gerichtsfälle, Fernsehjournalistin, ein toller
Job bei der ‚NZZ am
Sonntag‘. Aber weil sie schon als Kind immer Fernweh und nie Heimweh
hatte, nahm
sie 2016 unbezahlten Urlaub und ging sieben Monate auf Weltreise. Allein.
Vorher
verpflichtete sie sich noch, vier Wochen als Freiwillige in einem Flüchtlingscamp
in
Griechenland zu arbeiten. Da habe sie viel über sich selbst gelernt,
wie sie
funktioniere und in Krisensituationen funktionieren kann. Sie hat Belastbarkeit
gelernt, musste Verantwortung für andere tragen und musste funktionieren,
wenn es
hart auf hart kam. Eine Frau aus dem Irak sagte ihr, dass all das, was
sie den
Flüchtlingen gegeben habe, irgendwann wieder mal zu ihr zurückkommen
werde.
Auf der Weltreise hat sie „Blind“ fertiggeschrieben und fast
genau ein Jahr, nachdem
sie Griechenland verlassen hatte, wurde ihr vom Blanvalet Verlag für
„Blind“ ein
Vertrag angeboten. Das sei wohl das, was die Frau gemeint habe. „Blind“
wurde der
Topseller und hat sich schon mehr als 100‘000 mal verkauft. Für
jedes Buch gibt’s
seither einen neuen Einzelvertrag. So erscheint nun jedes Jahr ein neuer
Krimi und
sichert der Autorin das eigenverantwortliche Leben als schriftstellernde
Unternehmerin. Dazu später mehr.
Unerschöpfliches Phantasiepotenzial
Nun steht ihr neuster Roman in den Startlöchern. „Der Feind“
wird Ende April
erscheinen. Sandro Bandini, Chef der Abteilung Leib und Leben bei der
Berner
Kriminalpolizei ist gefordert. Zwei Fälle sind gleichzeitig zu bewältigen.
Zwei Fälle,
die auch die TV-Journalistin Milla Nova beschäftigen. Sandro und
Milla sind schon
länger ein Liebespaar, aber ein Polizist und eine Journalistin, die
aus
unterschiedlicher Perspektive an den gleichen Geschichten arbeiten: da
ist ziemlich
viel Konfliktpotenzial miteingebaut.
Die Handlung entwickelt sich zwar im Kopf der Autorin, aber dann wandert
sie immer
wieder in den Bauch und von dort manchmal direkt in den Computer. So kommt
es,
dass beim Schreiben eines Kapitels am Anfang noch nicht klar ist, wie
das Kapitel zu
Ende gehen wird. Nicht, dass das die Autorin beunruhigen würde. Im
Gegenteil.
Ausgestattet mit einem scheinbar unerschöpflichen Phantasiepotenzial
ergeben sich
so immer wieder überraschende Wendungen, die die Geschichte vorwärtstreiben.
Es
sei ein schöner Moment, wenn einen das Schreiben selbst überrasche
und sie
staune manchmal, wenn sie lese, was ihr alles in den Sinn gekommen sei.
Christine
Brand lässt sich treiben – beim Schreiben und auch sonst in
ihrem Leben. Und so
werden auch der Cousin, der blinde Nathaniel oder Bettina, die Polizistin
aus
Sandros Team natürliche Bestandteile einer Geschichte, die sich rasant
entwickelt,
mit gekonnten Cliffhängern, viel Tempo, viel Spannung und falschen
Fährten, die
einen das Buch, einmal in die Hand genommen, nur schwer wieder weglegen
lässt.
Dass sie eine emotionale Bindung zu ihren Figuren hat, ergibt sich dann,
wenn sie
feststellt, dass sie beim Tod einer Protagonistin heulend dasitzt und
dann erst merkt,
dass sie die Geschichte ja erfunden hat.
Christine Brand hat ein sonniges Gemüt und man fragt sich, wie das
mit ihren
morbiden Fantasien zusammengeht. Sie will, als Mörder, eine abscheuliche
Tat
begehen und will nicht, dass man ihn erwischt. Ein paar Seiten weiter
hinten ist sie
der Polizist, der an den Tatort kommt und nicht weiss, wer der Mörder
ist. Es scheint
wohl im Kopf grossen Spass zu machen, verschiedene Leben gleichzeitig
zu führen.
Man sei halt schon etwas komisch, wenn man Krimis schreibe.
Belastende Realität
Im Grunde ihres Wesens ist Christine Brand Journalistin. Ihre Krimis basieren
auf
gründlich recherchierten Themen, die das reale Leben zu bieten hat.
Im „Feind“ ist es
das Phänomen der Incels - der Bewegung der sogenannt unfreiwillig
jungfräulich
lebenden Männer, die getrieben sind vom Hass auf Frauen und ebenso
vom Hass
auf sich selbst. Die Fakten, die Aussagen der Incels, alles entspricht,
leider, der
Realität. Es ist eine Gratwanderung, wenn Fiktion und Fakten sich
vermischen. Die
Autorin achtet aber darauf, dass das unterhaltsame Element, der Thrill,
der einen
Krimi letztendlich ausmacht, die Oberhand behält.
Als Journalistin schreibt Christine Brand dagegen über wahre Verbrechen*.
Zum
Beispiel über die Mordtat von Rupperswil, deren Beschreibung nur
schwer zu
ertragen ist. Der eine Fall, bei dem einer seinen Kollegen in einer Höhle
einsperrt, wo
er elendiglich zugrunde geht, der sei so schlimm, da habe sie Albträume
gehabt. Die
Realität zu schreiben sei viel belastender.
Faszination für Verbrechen
Das Interesse für die Abgründe des Lebens ist bei Christine
Brand schon früh
geweckt worden mit den Gerichtsfällen, die sie verfolgte. Der erste
ist der Mordfall
Zwahlen gewesen, bei dem sie die Schule geschwänzt hatte, um beim
Prozess dabei
sein zu können. Es interessieren sie die Menschen, die Grenzerfahrungen
gemacht
haben. Dazu zählt sie sowohl Täter wie auch Opfer. Allerdings
ist sie nicht allein mit
diesem Interesse. Dass Krimis oder wahre Kriminalfälle gerade boomen,
zeigt, dass
Verbrechen für viele Leute eine grosse Faszination haben. In einem
Artikel in der
NZZ hat der österreichische Gerichtspsychiater Reinhard Haller die
Meinung
vertreten, dass Verbrechen Psychologie pur sei, dass wir Kriminalgeschichten
und
Kriminalfälle als Spiegel für uns selbst benutzen.
Also einen Krimi schreiben oder lesen, um seelische Abgründe in uns
zu erkennen?
Christine Brand sieht das ziemlich entspannt. Für sie sind Krimis
gut für
Unterhaltung, gut, etwas Spannung ins Leben zu bringen, ohne dass man
selbst
betroffen ist. Und wenn am Schluss der Täter erwischt wird und das
Gerechtigkeitsempfinden befriedigt ist, hat der Krimi seinen Zweck erfüllt.
„Seid ihr eigentlich glücklich?“
Die Erfolgsgeschichte der Christine Brand ist eine Geschichte über
die Kunst des
Loslassens. Mit dem Vorschuss des Verlags in der Tasche gibt sie eine
gut bezahlte
Stelle auf, kündet die Wohnung und verschenkt ihren Hausrat, um fortan
als
Unternehmerin vom Bücherschreiben zu leben. Reduce to the max. Es
kommt ihr
entgegen, dass sie keine familiären Verpflichtungen, keine Kinder
hat. Mit einer
Sporttasche, die als Handgepäck durchgeht und einem Bauchrucksack
fliegt sie um
die Welt oder nach Sansibar, wo sie ihre Bücher schreibt und ein
unabhängiges
Leben führen kann. Sansibar, wo im täglichen Leben nicht alles
einfach zu haben ist.
In der Schweiz lebe man fürs Arbeiten und hier arbeite man fürs
Leben. In der
Schweiz habe jeder eine Agenda. „Hier gehst du nach draussen und
triffst jemanden
aber machst nie etwas ab. In der Schweiz sei es wahnsinnig schwierig,
sich dem
gesellschaftlichen Trott zu entziehen und dann denke sie „heitere
Fahne, seid ihr
eigentlich glücklich?“
Glück ist ein grosses Wort. Wenn sie Glück gehabt habe, dann
liege es auch an
ihrem Wesen, dass Sie immer das Positive sehe und dass sie zum Glück
keine
Angst habe. Angst bremse aus, obwohl sie meist unbegründet sei. Deshalb
habe sie
gar nie gross nachgedacht, als sich neue Lebenswege aufgetan hätten.
Sie ist
zufrieden und froh, dass sie ein unabhängiges Leben führen kann,
dass sie hier sein
kann in Afrika, hier arbeiten kann. Es passe alles zusammen, sie hätte
es nicht
besser planen können. In Sansibar tankt sie Energie. Es gibt keinen
durchgetakteten
Terminkalender. Sie schreibt dann, wenn es gerade passt, schon diszipliniert,
aber
es gibt keine Ablenkung. Angst hat sie nur, dass man ihre Bücher
nicht mögen
könnte oder dass sie nicht mehr schreiben kann. Sie hat noch mindestens
fünf
Bücher im Kopf, die hurtig geschrieben sein müssen.
*Christine Brand
Wahre Verbrechen
Blanvalet 2021
©
Zeitschrift
50plus
Kurt Schaad (* 20. November 1950) ist ein Schweizer Fernsehmoderator,
Journalist und Medienunternehmer.
Beim Schweizer
Fernsehen war der ausgebildete Primarlehrer seit 1972 als Redaktor und
Moderator tätig, etwa für das Vorabendmagazin Karussell, die
Tagesschau oder für zahlreiche Reise- und Grossreportagen. Von 1991
bis 2006 war er Redaktionsleiter von SF Spezial und danach bis Ende 2009
Projekt- und Redaktionsleiter des Wirtschaftsmagazins ECO. Für die
US-amerikanische Dokumentarfilmserie Nova produzierte der Aviatik-Experte
Schaad ausserdem den Film Crash of Flight 111 mit, der 2004 für zwei
Emmys nominiert war. 2011 gründete er zusammen mit Alexander Mazzara
und Peter Schulz den Jugendsender Joiz.
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