Brigitte Affolter/Conradin Conzetti Hrsg.
Diese Worte in ihrem Herzen. Berner Weihnachtsgeschichten
115 Seiten

TVZ Verlag Fr. 22.00
Das Bändchen versammelt 24 Erzählungen in klassischen und modernen Formen, von alten und jungen, deutsch- und französischsprachigen, reformierten, christ- und römisch-katholischen Pfarrerinnen und Pfarrern mit sprachlichem Flair aus dem Gebiet der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn.
Ich habe Ihnen hier eine Geschichte kopiert, die mir sehr gefallen hat:

 

Ursula Trachsel: Es ist ein Ros' entsprungen

"Mir wäre lieber gewesen, wenn es gleich fertig gewesen wäre", sagtest du damals, vor etwas mehr als zwei Jahren. Du bist zu Hause die Treppe hinuntergstürzt, hast dir den Oberschenkel gebrochen, die Schulter arg verletzt, und zahlreiche blaue Flecken zeugten von deinem Unglück.
Lange bist du da gelegen, bevor ein Nachbar dich gefunden hat. "
Acht Kinder habe ich geboren, aber diesen Schmerz nach dem Sturz, ich meinte, ihn nicht aushalten zu können", sagtest du.
Es ist nicht "fertig gewesen". Man hat dir ein Stück Metall anstelle des Oberschenkelknochens eingesetzt, deine Schulter bandagiert, die blauen Flecken gesalbt und dich mithilfe eines Rollators - ein Stosserli, wie du den neuen Begleiter nennst - mobilisiert.
Für dich ist schnell einmal klar geworden, dass die selbstständige Haushaltführung in deiner Wohnung im Bergdorf mit den langen Wintern nicht mehr möglich sein würde. Ein Platz im Altersheim war frei und du bist eingezogen: mit dem Stosserli, einem kleinen Koffer und schwerem Herzen. Du schliefst fortan nicht mehr im breiten Holzbett, das du über fünfzig Jahre mit deinem Mann geteilt hattest. Du hattest keine eigene Küche mehr zum Zubereiten deiner Minestrone und Backen deiner Apfelkuchen. Damals, vor etwas mehr als zwei Jahren, wurde deine Welt innert weniger Wochen demontiert.
Heute bist du in deiner neuen Welt angekommen. Dein Lebenswille ist nochmals erstarkt. In Demut und Dankbarkeit hast du das für dich Gute erkannt und deinen Platz im Altersheim gefunden.
Heute, mit 96 Jahren, hast du in deiner neuen Welt gelernt zu geniessen, wohl erstmals in deinem Leben in diesem Ausmass. Du geniesst das feine Essen, immer mit Dessert, wie du zu betonen pflegst. Du geniesst es, eingecremt zu werden nach Dusche oder Bad; du würdest dich jeweils so wohl fühlen wie ein "Mämmi" - ein Säugling. Du geniesst es, nicht länger mit Hausarbeit belastet zu sein; alle Pflegenden seien so aufmerksam und sorgfältig, betonst du immer wieder. Du machst mit bei allen Aktivitäten: du malst, du kochst, du turnst, du jasst, du singst. "Weisst du, wir krächzen mehr, als wir singen, aber es macht Freude", sagtest du mir, als wir zusammen Weihnachtslieder gesungen haben in deinem Zimmer im Altersheim.

"Es ist ein Ros' entsprungen, aus einer Wurzel zart" - wie das Blümlein im kalten Winter bist du aufgeblüäht, Anna, du starke, lebensbejahende, würdevolle, neugierige und demütige Schwiegermutter. Ich danke dir.

Ursula Trachsel
1961, Erwachsenenbildnerin und Nonprofit-Managerin, arbeitet bei den gesamtkirchlichen Dienst der reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn

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