Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Genazino hat schon eine Reihe von Büchern geschrieben und zur Veröffentlichung gebracht, doch seine letzten zwei haben mich besonders beeindruckt. Obwohl im thematischen Ansatz so unterschiedlich, handeln sie beide von bizarren Blickhaltungen ihrer Protagonisten. Und dieser Umstand ist es wert, den eigenen Blick auf diesen heute sechzigjährigen Autor zu richten, der seit einigen Jahren recht umfassend im deutschsprachigen Raum und auf vielen Lesungen Beachtung findet und gefeiert wird. Nun stellt auch ein Wilhelm Genazino seine Wirklichkeit in Worten vor und nicht in Bildern, doch sind so viele Sätze durchdrungen vom Sehen und Beobachten und Begutachten und einem fast kindlichen Wundern, wie die Dinge um uns herum oder in uns zusammenhängen, dass man selbst kaum mehr hochblickt, sondern ständig weiterliest. Wie die Dinge bei Genazino zusammenhängen, erschliesst sich am vortrefflichsten in einem Zitat aus dem jüngsten Roman, welcher den Titel trägt: „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“. Der Roman behandelt die Erlebnisse eines siebzehnjährigen Mannes, der die Tücke des Scheiterns im Deutschland der fünfziger Jahres des letzten Jahrhunderts erlebt. Er befreit sich jedoch aus allen Lagen und lässt seine Leserschaft daran teilhaben, derart, dass wir Spass gewinnen zu sehen, wie er es macht. Vielleicht lässt sich da etwas für den eigenen Alltag herausholen... Beispiel: Der Protagonist, der junge Herr Weigand, sitzt mit seiner Mutter, nachdem er kurzerhand vom Gymnasium geflogen war, im Chefzimmer einer Grossgärtnerei. Irgendwie klappt das Bewerbungsgespräch mit dem Obergärtner nicht: „Ich sah dem Chef ins Gesicht und doch an seinem Gesicht vorbei nach draussen. Hinter ihm gab es ein grosses Fenster, das den Blick auf eine belebte Strasse freigab. In diesen Augenblicken begann draussen ein Mann, ein neues Plakat auf eine Werbewand zu kleben. Es war ein riesiges buntes Plakat für eine neue Halbbitter-Schokolade. Es dauerte eine halbe Minute, dann war ich in das Wort halbbitter vertieft. Ich begriff, dass ich mich selbst in einer halbbitteren Situation befand und dass mir das Plakat half, meine Lage zu verstehen.“ Und so geht es in einem fort in diesem herrlich-herzhaften Roman. Wobei Blickketten und das Verstricksein im Leben, Erläuterungen und Risse sich abwechseln und die Beschreibung nie ins Blöde rutscht. Das könnte natürlich leicht geschehen, aber Wilhelm Genazino ist ein Meister der Balance und er beweist es ausgereichnet auf einem Boot. Wir befinden uns also in etwas wässriger Lage, d.h. auf einem Ausflugsdampfer und der Herr Wiegand ist voller Unmut: „Ich versuchte, mit ein paar langen Blicken auf das Wasser meine Seele zu beschwichtigen, damit sie wieder weich und verhandlungsfähig wurde. Sie blieb jedoch hart und störrisch, weshalb ich es mit ein paar ebenso langen Blicken in den Himmel probierte. Ich schaute etwas blöde den Möven nach und wunderte mich, dass in beiden Worten (blöde Möven) ein ö der wichtigste Laut war. Gleichzeitig fiel mir auf, dass viele andere Personen auf dem Schiff ebnfalls nach den Möwen schauten, durchaus mit blöden Gesichtsausdrücken. Wurde überhaupt soviel, so oft und so lange nach Möven geschaut, weil die Menschen in blöden Situationen waren und nicht recht weiterwussten?“ In der Tat: Dieser deutsche Schriftsteller hat seinen Ton und mit seinem Sprach-Ton die Bewältigung mancher Gemeinheit und Verzwicktheit und Zufälligkeit des Lebens gemeistert. Man folgt gern seinen Worten und Bildern und kann fast süchtig werden auf Neues. Hoffentlich ist es bald wieder soweit, dass ein Manuskript seinen vorbildlichen Heidelberger Schreibtisch verlässt und gen München zu seinem Verleger geschickt wird. Bis es soweit ist, darf als Empfehlung gelten: Wilhem Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag, Wilhelm Genazino, Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. Christian Scholz
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