Jürg Brändli, Drehbuchautor aus Wald, hat das Buch "Distelfink" der amerikanischen Autorin Donna Tartt für Sie gelesen:
Erwachsenwerden eines Kunstdiebs In „Der Distelfink“ von Donna Tartt geht es um den, anfangs, dreizehnjährigen Theodore Decker, der bei einem Terroranschlag auf das New Yorker Metropolitan Museum seine Mutter verliert. Unter Schock entwendet er in der Galerie ein berühmtes Gemälde, eben den „Distelfink“ von Carel Fabritius, um das Bild solange, jahrelang, wie ein Kunstdieb zu horten, bis er den Tod seiner Mutter verwunden hat und erwachsen geworden ist. Auf diesem Weg begegnen wir seinem Vater, einem Trinker und Spieler, der in Las Vegas lebt und Mafia-Selbstmord verübt, und anderen schillernden Bezugspersonen, die den waisen Theo begleiten. Höhepunkt dabei bildet sicher der Charakter von Boris, dem amoralischen, angstlosen und toleranten russischen Lebemann, dirty und soft, dunkel als Kind, schillernd als Erwachsener, der Theo sexuell verwirrt und in die Drogen hineinzieht und auf alles immer eine beschlagene Antwort weiss. Mehr über die verzwickte Handlung sei an dieser Stelle nicht verraten. „Der Distelfink“ transportiert viel Berührendes, es handelt sich im ersten Viertel um ein Teenager-Drama für Volljährige. Es geht um Abschied und menschlichen Verlust, ums Erwachen von Bisexualität, es ist eine Froschperspektive auf den american way of life der Erwachsenen. Da ist etwas drin von Salingers „Fänger im Roggen“, und da ist – weit entfernt – etwas drin von Dickens‘ „Oliver Twist“. Einziger Mangel: Die Jungen haben alle einen zu erwachsenen Horizont, so dass sie sich ein bisschen ausnehmen wie Hobbits. Anschliessend, die Hauptfigur ist jetzt erwachsen, führt uns die Geschichte ins Milieu von Antiquitätenschwindel und illegalem Kunsthandel in Manhattan. Dabei ist beeindruckend zu beobachten, wie der Ich-Erzähler – und die Autorin zusammen mit ihm – einen neuen Reifegrad erreicht, der sich im Duktus der Sprache niederschlägt. Stark auch, wie der Gegensatz zwischen dem heimeligen, geschichtsträchtigen, nestwarmen, jüdischen New York der Museen und Antiquitäten gegenüber der identitätslosen 24-Stunden-Welt von Las Vegas herausgearbeitet ist, dem aseptischen Feld der Entwurzelung, wo es praktisch keine Einheimischen gibt. Danach switcht die Autorin zwischen den Genres. So fühlen wir uns im dritten Viertel, auf dem gesellschaftlichen Parkett von New York, etwas an Rosamunde Pilcher erinnert, und im letzten, dem besten, dunklen und monologhaften Viertel dann etwas an Raymond Chandler. Vor allem in letzterem Abschnitt hat Tartts Literatur etwas von method acting. Fazit: „Der Distelfink“ ist intellektuelle, kunststudentische Unterhaltung für Aufgeschlossene. Der Roman umfasst satte 1000 Seiten. Weniger wäre mehr gewesen. Die Story plätschert zuweilen etwas gar lau und ereignislos vor sich hin, verloren in leidenschaftlichen Beschreibungen. Tartt hat einen barocken Sinn für Details und Stimmungen, aber ein bisschen zu wenig für Dramaturgie und den erzählerischen Kontrapunkt; es mangelt ordentlich an Stringenz. Trotzdem bleibt immer ein fieberhaftes Surren, die ängstliche Sphäre der Kleinkriminalität als bürgerliches Faszinosum, der erregende Sog der Halbwelt, surreal und tagtraumhaft, also Tartts Markenzeichen, nämlich Metaphern und Einfälle wie dunkle wachsende Tuschflecken auf blütenweissem Löschpapier. Die Autorin hat bei mir Kredit wegen „Die geheime Geschichte“, ihrem vor mehr als zwanzig Jahren erschienenem Erstling, nämlich dem studentischen Mysteryplay um Altgriechisches, akademische Burschenschaft und junge Gruppendynamik. Es war ein subtiler Campus-Thriller, genial, mörderisch spannend, Gänsehaut fürs Hirn, weltweit fünf Millionen Mal verkauft. Das nächste Buch, „Der kleine Freund“, entpuppte sich dann leider als eine Enttäuschung. Ich habe es bereits nach wenigen Kapiteln weggelegt; es war mir schlicht zu banal, und es machte auch keine Furore. Mit „Der Distelfink“ feiert Tartt nun ihr furioses Comeback. Den Pulitzerpreis hat sie dafür bereits erhalten. Zwar ist das Buch nicht ganz so magisch, nicht ganz so morbid wie „Die geheime Geschichte“, aber immer noch mit derselben Affinität zum Tod und zum Bösen verfasst, mit demselben dostojewskijschen Schuldkomplex und derselben Trauer, wie sie dem sensiblen Introvertierten zu eigen ist. Einige Rezensenten nennen es ein Meisterwerk. Böse Zungen nennen es einen Kinderroman. Soweit würde ich nicht gehen. Es wandelt einfach auf einem sehr schmalen Grat. Es ist ein Buch wie der narkotische „Perfect Day“-Song von Lou Reed; und immerhin in derselben besten, realistischen und modernen US-Erzähltradition stehend wie Philip Roth, Jeffrey Eugenides oder Jonathan Franzen. Jürg
Brändli
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