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Der Schriftsteller und Drehbuchautor Jürg Brändli aus
Wald hat mir seine Buchbesprechung zur Verfügung gestellt. Vielen
Dank.
Jeffrey
Eugenides, Das grosse Experiment
Rowohlt Verlag
336 Seiten Fr. 27.50 Info/bestellen
Ethno
jenseits von Multikulti
Literaturkritik von Jürg Brändli
Ich habe Jeffrey Eugenides, den 1960 bei Detroit geborenen modernen amerikanischen
Romancier mit griechisch-irischen Wurzeln, von Beginn weg gemocht: seinen
unerklärlichen Magic, seine erzählerische Übernatürlichkeit,
seinen schriftstellerischen Filter, der bis heute aus jedem banalen Licht
einen leuchtenden Stern produziert. In seinem Werk wimmelt es von historischen
und popkulturellen Hausnummern, die Lesern wie mir passen. Sein Debüt
„Die Selbstmord-Schwestern“ habe ich als Journalist in den
Neunzigerjahren gelesen und geliebt, noch bevor Sofia Coppola den Text
1999 kongenial fürs internationale Kino featurte, und den dicken
Roman „Middlesex“ (2003), mit dem Eugenides wenig später
den Pulitzer-Preis gewinnen sollte, habe ich verschlungen trotz der seelischen
Schmerzen, die einem das Buch und seine schiere Lebhaftigkeit bereitet.
Später folgte der Absturz mit dem ambitioniert angelegten Werk „Die
Liebeshandlung“, das einfach zu schwul, zu päpstlich und zu
banal war für einen Mainstream-Bestseller, so dass ich heute, acht
Jahre später, glücklich bin, von einer Eugenides-Neuerscheinung
berichten zu dürfen, die es wieder in sich hat: „Das grosse
Experiment“, eine Sammlung mit zehn Kurzgeschichten, erschienen
erstmals 2017 in den Staaten und nun auf Deutsch herausgegeben vom Rowohlt-Verlag
in Reinbek bei Hamburg. Die Stories stammen aus den Jahren 1988 bis 2017,
also zum Teil auch noch aus einer Zeit, in der sich Eugenides noch nicht
etabliert hatte. Erster Höhepunkt bildet „Die Bratenspritze“
(1995), der Slapstick um eine Samenspende mit herrlicher Schlusspointe.
„Sex and the City“ lässt grüssen. Bei „Alte
Musik“ (2005) handelt es sich um eine fesselnde Ode an das so genannte
Clavichord, ein antikes Klavierinstrument. Fans von Deutschland und Johann
Sebastian Bach kommen in dieser Geschichte auf ihre Kosten, in der es
auch um Spielzeugmäuse aus Stoff geht, die man in der Mikrowelle
zum Duften bringen kann. Mit dieser Geschäftsidee will das verschuldete
Paar Rodney und Rebecca nämlich die nötigen „Mäuse“
machen, um endlich ein normales Leben zu führen. (Funktioniert das
Wortspiel auch auf Englisch?) In „Such den Bösewicht“
(2013), vielleicht dem besten Stück, erschleicht sich die Deutsche
Johanna eine Green Card, indem sie Charlie heiratet. Obwohl es Liebe ist,
die zu zwei Kindern führt – Meg und Lucas –, lässt
sich die Lüge nie ganz aus der Welt schaffen, und am Ende darf sich
Charlie gemäss richterlicher Verfügung Johanna nur noch bis
auf fünfzig Fuss nähern. In „Das Orakel der Vulva“
(1999) gerät ein liberaler Ethno-Sexualforscher, der nur Vergewaltigung
und Pädophilie ablehnt, in einen tiefen Konflikt, weil er im Rahmen
einer Feldstudie mit Pädophilie als uraltes Stammesritual konfrontiert
wird. Im Text, der vier Jahre vor „Middlesex“ entstanden ist,
geht es auch noch um ein anderes schwieriges Motiv: um Hermaphroditismus
und wie sich die Gesellschaft damit schwer tut. In „Launenhafte
Gärten“ (1988), der ältesten Geschichte, beschreibt Eugenides
einen Abend unter vier Erwachsenen, an dem für die Liebe alles schief
läuft. In „Das grosse Experiment“ (2008) wandelt der
Autor zunächst auf den Spuren von David Mamet, indem er dessen smarte
Kapitalismus-Kritik teilt sowie dessen kriminelle Taschenspielerei, um
in seinem ätzenden Pessimismus am Ende aber doch nicht ganz übereinzustimmen.
Kendall, zuverlässiger Lektor in einem Verlag, der auch Pornografie
vertreibt, wagt es nach Jahren, seinen über 80jährigen Arbeitgeber
Jimmy um einen Krankenversicherung zu bitten. Der reagiert zunächst
ablehnend, so dass es Kendall, von einem Kollegen dazu angestiftet, in
die Illegalität treibt. Als Jimmy seine Meinung ändert, ist
es bereits zu spät, und der „reiche alte weisse Mann“
ist und bleibt in dieser Welt der lachende Dritte. In „Nach der
Tat“ (2017) schliesslich, dem jüngsten Text in der Zusammenstellung,
geht Mathew, ein erfolgreicher Buchautor und Kosmologe, der jungen Inderin
Pakrti bei einem Ausrutscher in die Falle, die ihn danach wegen Vergewaltigung
einer Minderjährigen anzeigt, die in Wirklichkeit aber nur einer
arrangierten Ehe entgehen will durch den vorzeitigen Verlust ihrer Jungfernschaft.
Der Familienvater Mathew, der dabei alles verliert, gerät zum westlichen
Kollateralschaden in einem indischen Drama. Eugenides, der sich dabei
als Erzähler auf der Höhe der Zeit entpuppt, zeigt auf, dass
sich verschiedene Traditionswelten nicht vereinbaren lassen und dass es
in die Katastrophe führt, wer gewaltsam das Gegenteil heraufzubeschwören
versucht.
Und so weiter. Und
so weiter.
Wie immer in seinen Geschichten legt Eugenides sein Augenmerk auch diesmal
wie beiläufig auf sexuelle und ethnische Minderheiten, aber ohne
sozi und ohne multikulti. Er fokussiert sich auf das Sonderbare in der
Welt und auf die Menschen, die damit konfrontiert werden. Dabei geht er
mit dem ihm zu eigenen unvoreingenommenen Realismus zu Werke, der gleichbedeutend
ist einer atemberaubenden Vorurteilslosigkeit. Es ist sein Geheimrezept.
Die verschiedenen Stories kommen irgendwie ohne Beginn und ohne Ende aus.
Als Leser wird man Zeuge von „in medias res“-Anfängen
und ständigem zweitem Akt, wobei sich alles auf das March von Spannung
und Emotionen konzentriert. Man wünschte sich, die Milieus in den
Geschichten würden sich ein bisschen stärker voneinander unterscheiden.
Eugenides nimmt vor allem den konservativen Mittelstand aufs Korn, dem
er selber entstammt. Einen anderen Kontrast beherrscht er besser: den
zwischen nah und fern, zwischen vertrauter, vornehmer und akademischer
Heimat einerseits und den existenziellen, fieberhaften Subtropen anderseits,
als schlüge eine gemachte Vietnamkriegserfahrung durch („Air
Mail“, 1996). Das Geschriebene leidet zuweilen an zu viel Unschuldigkeit
und zu wenig Subtext („Klagende“, 2017). What you read is
what you get. Ein bisschen stossend bleibt – nicht zum ersten Mal
– auch das gut gemeinte Faible des Autors für eklige Details.
Es bleibt sein unbeschreibliches Talent, in dieser Gesellschaft die Zwischenräume
auszuloten, jeden noch so schweren Stein kehren und in jeden noch so engen
Winkel leuchten zu können.
Diesmal bin ich wirklich wieder gespannt auf sein nächstes.
Jürg
Brändli
Schriftsteller, Drehbuchautor & Journalist
1971 in Wald geboren und aufgewachsen, war in den 90igern als verantwortlicher
Redaktor beim "Tagblatt der Stadt Zürich" angestellt, bevor
er sich als Drehbuchautor sowie als Verfasser von Hörspielen selbständig
machte. Zu seinen bekanntesten Werken gehört der Kinofilm "Grounding
- die letzten Tage der Swissair".
Archiv
Juni
2002 Enrico Danieli
Juli
2002 Bernhard Gurtner
August
2002 Erhard Taverna
September
2002 Hansruedi Gehring
Oktober
2002 Bernhard Gurtner
Januar
2003 Hans-Jakob Schmid
Februar
2003 Alfred Bollinger
März
2003 Bernhard Hess
April 2003
Erhard Taverna
Mai 2003 Jürg
Steiner
September
2003 Enrico Danieli
Dezember
2003 Christian Scholz
Januar
2004 Katharina Zaugg
Februar 2004 Werner Müller
März
2004 Enrico Danieli
April
2004 Kurt Jenny
Dezember
2005 Bärbel Schnegg
Februar
2006 Martin Müller
Oktober
2006 Michael Ritter, Wien
August
2007 Michael Ritter, Wien
Oktober
2007 Bernadette Reichlin, Wald
Januar 2008 Fritz
Coester, Wimmis
März
2008 Rolf Wesbonk, Stäfa
April
2008 Kurt Knobel, Stäfa
Mai
2008 Lotti Klaiber, Bern
Juli 2008 Rolf
Wesbonk, Stäfa
September 2008 Annette
Frommherz, Bubikon
Januar 2009 Peter
Schindler, Zürich
Juni 2009 Almut
Meier-Weinand, Zürich
Juli 2009
Paul Ott, Bern
Dezember
2009 Peter Wehrli, Bern
Februar
2010 Bernadette Reichlin, Wald
Mai 2010
Alfred Bollinger, Stäfa
Juli 2010
Bernadette Reichlin, Wald
Oktober
2010 Iris Schäppi, Stäfa
Januar
2011: Bernadette Reichlin, Wald
März
2011: Bruno Kesseli, Basel
Mai 2011:
Martin Ebel, Zürich
März
2012: Urs Faes, Zürich
April 2012: Bernadette
Conrad, Zürcher Oberländer, Wetzikon
Juli 2013:
Christian Jossi, Winterthur
Juli 2014:
Bruno Kesseli, Basel
September
2014: Jürg Brändli, Wald
April 2015: Hans-Peter
Müller, Thun
Mai 2015:
Diana Kirch, Zürich
Juli 2015: Jens Martignoni, Wald
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