Die Journalistin Elisabeth Bardill-Meyer aus Tenna im Safiental hat mir die Erlaubnis gegeben, ihre Buchbesprechungen hier abzudrucken. Ganz herzlichen Dank!


Zwei Besprechungungen für Sie:

Plinio Marini, Nicht Anfang und nicht Ende
Mariella Mehr, Zeus oder der Zwillingston


Plinio Martini, Nicht Anfang und nicht Ende
Limmat Verlag
240 Seiten Fr. 35.00 Info/bestellen

Nicht Anfang und nicht Ende

„Ja, in unserem Dorf gab es Not und Elend genug, aber gerade darum kümmerte man sich umeinander und half sich gegenseitig weiter. Wir, die Valdi, konnten uns noch zu den Glücklichen zählen, denn unser Vater besass das Weiderecht für fünfzehn Kühe und zwei Fuss auf der Alp Sologna, und zwischen Roseto und Cavergno brachten wir Heu für anderthalb Kühe und zwei Dutzend Ziegen zusammen. Dank dem Käse von der Alp hatten wir zu Hause niemals richtigen, zehrenden Hunger kennen gelernt.“ Armut und Allgegenwart des Todes haben Gori aus dem Maggiatal zur Auswanderung nach Amerika getrieben. Dort wird er von nagendem Heimweh geplagt. Die Gegensätze vom Leben in Amerika und im Maggiatal machen die Faszination und die Zerrissenheit zwischen alter und neuer Welt deutlich. Gori ist einer, der zurückkommt. Doch was ist mit seiner geliebten Maddalena geschehen? Die stille, ergreifende Liebesgeschichte hält die Welten, wenn auch schmerzlich, zusammen.

Roman einer Rückkehr, eines Lebensabschnittes, nicht Anfang und nicht Ende. Das unbekannte Tessin begegnet uns in Büchern. Dank immer zahlreicheren Übersetzungen hören wir heute die Stimme der einheimischen Tessiner deutlicher denn je. Man besinnt sich im Südkanton vermehrt auf die eigentliche Geschichte. Neuerscheinungen und Neuauflagen vergriffener Bücher erscheinen im Buchhandel und setzen Zeichen für den Kanton Tessin. – Plinio Martini (1923-1979), Sohn eines Bäckers, war Lehrer im Maggiatal. Er dokumentierte die Zeitgeschichte seiner Heimat in der Mitte des letzten Jahrhunderts: Den Niedergang der Landwirtschaft, die Emigration, den Bodenverkauf, das Tourismusgeschäft… Hundert Jahre nach Martinis Geburt ehrt der Limmatverlag den Autor mit einer Neuauflage des grossen Romans in der Übersetzung aus dem Italienischen von Trude Fein.

Elisabeth Bardill
29. August 2023




Mariella Mehr, Zeus oder der Zwillingston
Limmatverlag
272 Seiten Fr. 32.50 Info/bestellen


Zeus oder der Zwillingston

Die Autorin Mariella Mehr, 1947- 2022, beleuchtete ein dunkles Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte des letzten Jahrhunderts. Unzählige Kinder von Jenischen Familien, vor allem in Graubünden, wurden ihren Eltern entrissen, um sie zu einem sesshaften Leben zu erziehen. Ohne Schuld und Gerichtsurteil wurden Jugendliche zwangsversorgt. Mariella erlitt selber dieses Schicksal. Sie wuchs in Heimen und bei Pflegeeltern auf und verbrachte Monate im Gefängnis. Das Schreiben wurde nicht nur die Rettung für sie selber, sondern für viele andere «Kinder der Landstrasse» und Antrieb für eine offenere Psychiatrie. Mutig und zornig kämpfte sie gegen die menschenentwürdigenden Verhältnisse an. Mit Ihrer Literatur hält sie Erinnerungen wach. Mit Sprachgewalt, ja grandiosem Spottgesang, entlarvt sie im betreffenden Roman die Macht der Leistungsträgerinnen und -träger in Kliniken und Behörden. Die Autorin erhielt zahlreiche Preise. Die Universität Basel verlieh ihr die Ehrendoktorwürde für ihr Engagement unterdrückter Minderheiten.
Der Psychiatrieroman erschien erstmals 1994 und wirkte damals wie der Wurf eines Steinbrockens in seichtes Gewässer. Es handelt sich darin um die irrsinnige Geschichte in einer psychiatrischen Klinik, namens Narrenwald. Der Neuankömmling glaubte von sich, dass er der Göttervater Zeus sei und behauptete, dass er auf einem geflügelten Pferd hier in der Männerabteilung gelandet sei. Der epische Sprachstrom der Verse und Hymnen aus dem Altertum, hielten ihn seit Jahrtausenden, ohne sein Einverständnis, am Leben. Und wenn er brüllte, stand ihm das als «Zeus» eben zu. – In der Frauenabteilung lebte Rosa Zwiebelbuch. Sie hatte einst nach ihrer traurigen Kindheit die Gunst der Stunde genutzt und die Stelle bei einem kunsthandwerklich tätigen Geschäftsmann in Stuttgart angenommen. Dort geschah Ungeheuerliches in einer Nacht, als der Patron ausnahmsweise abwesend war. Rosa verschwand bald danach. Als Kindsmörderin wurde sie später vom Gefängnis in die Anstalt Narrenwald überführt. –Plötzlich kam es nach ruhigen Lebensabschnitten von Zeus und Rosa zum vulkanischen Ausbruch der gestauten Gefühle und Begierden. Das, als sie sich nach Jahren wiedererkannten durch den verbindenden Zwillingston, das Gebrüll des Zeus und das Stöhnen der Rosa. Die gleichzeitige Erinnerung der beiden liess die Zeit stillstehen. – Die beiden verantwortlichen Ärzte Wasserfallen und Abderhalden wollten und konnten das «Krankengut» nicht heilen. Sie verfügten, experimentierten, elektrisierten, liessen operieren oder verordneten beruhigende Medikamente. So waren sie des langsamen Alterns und Dahinsterbens ihrer Schutzbefohlenen sicher. Sie konnten abends, dank besonderer Begebenheiten im Narrenwald, stets mit belustigenden Geschichten am Stammtisch im Gasthaus aufwarten. Der selbsternannte «Zeus», der sich in der griechischen Mythologie bestens auskannte, war ja ein dankbares Thema für den Feierabend in der Beiz.

Elisabeth Bardill
14. September 2023

Mariella Mehr
Mariella Mehr wurde als Angehörige der Minderheit der Jenischen 1947 in Zürich geboren. Sie war ein Opfer des Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse, das Kinder von ihren «fahrenden» Eltern zwangsweise trennte. Sie wuchs in 16 Kinderheimen und drei Erziehungsanstalten auf. Viermal wurde sie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, 19 Monate verbrachte sie in der Frauenstrafanstalt Hindelbank.
Mehr verstarb am 5. September 2022 im Alter von 74 Jahren im Zürcher Pflegeheim Entlisberg

Elisabeth Bardill


Elisabeth Bardill-Meyer kam 1941 im aargauischen Auenstein zur Welt und wuchs danach in Küsnacht am Zürichsee auf. Nach der Ausbildung zur Kindergärtnerin an der Neuen Mädchenschule Bern war sie in Bubendorf BL tätig. Nach der Heirat mit einem Bündner Lehrer zog sie nach Tenna ins Safiental und später nach Schiers. Sie hat vier Söhne und fünfzehn Enkel. Während vieler Jahre unterrichtete sie im Bildungszentrum Palottis Schiers in den Fächern Erziehungslehre, Werken und Gestalten. Seit 2004 lebt Elisabeth Bardill mit ihrem Mann wieder in Tenna. Sie arbeitet freischaffend journalistisch für Zeitschriften, Zeitungen wie auch regelmässig für die „Terra Grischuna“, schreibt Bücher und gibt diese selber unter „edition bardill“ heraus. Es handelt sich stets um Porträts von Menschen in Graubünden.



Elisabeth Bardill, Männer und Frauen verwurzelt in Graubünden

Edition Bardill
Fr. 30.00 bitte mit Mail bestellen



Elisabeth Bardill, Bauernstolz und Bauerntum
Edition Bardill, 2008 Fr. 35.00 bitte mit Mail bestellen

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