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Die
Journalistin Elisabeth Bardill-Meyer aus Tenna im Safiental hat mir die
Erlaubnis gegeben, ihre Buchbesprechungen hier abzudrucken. Ganz herzlichen
Dank!
Besprechungungen für Sie:
Cimen Özlem, Babas Schweigen
Martin Becker, Die Arbeiter
Das Kochbuch der Kittin von 1699
Cimen Özlem, Babas Schweigen
Limmat Verlag
114 Seiten Fr. 30.00 Bitte per
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Schweigen über die Vergangenheit
Babas Schweigen, der Titel der Erzählung von Özlem Çimen,
berührt Menschen in einem Dorf, wo man seit Generationen über
die Geschichte schweigt. Die Protagonistin, ja die Autorin, brauchte Zeit,
um ihren Vater Baba darüber zu fragen. Eine dunkle spürbare
Ahnung lag schwer in der Luft. Als kleines Mädchen fuhr Özlem,
die in der Schweiz aufgewachsen war, in den Ferien mit den Eltern zu den
Grosseltern nach Anatolien. Das war in den Neunzigerjahren. Viele Verwandte
erwarteten die Feriengäste zuhause im Dorf. Gründe zum Feiern
gab es viele. Özlem spielte mit all den vielen Kindern. Die Einheimischen
kannten jeden Winkel in Dorf und Feld. Niemals ist jemandem etwas zugestossen.
Es gab aber viele Geschichten, die vor Gefahren beschützen sollten.
Gut zwanzig Jahre später fährt Özlem mit ihrem Mann und
ihren kleinen Töchtern wieder aus der Innerschweiz ins türkische
Dorf. Als erwachsene Frau hat sie eine deutlichere Wahrnehmung und möchte
mehr über die Vergangenheit und Familiengeschichte erfahren. Die
seltsame Sprache Zazaki und die neue Offenheit ihres Vaters führen
sie vage an den Ursprung ihrer Vorfahren heran. Baba sagt anfangs zu seiner
Tochter: «Ja, wer interessiert sich für uns? Wenn ihr gefragt
werdet, wer ihr seid, sagt einfach, dass ihr türkisch seid.»
Wie gibt man Geschichte mit Grausamkeiten an die nächste Generation
weiter, wenn darüber wenig dokumentiert ist? Dass darin die eigene
Geschichte vorkommt, macht die Sache noch viel schwieriger. Özlem
forscht weiter. – Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die Vertreibungen
und Massaker an den Armeniern im ganzen Land. Deportationen in die Westtürkei,
das Verbot der zazaischen Sprache und eine strenge Assimilationspolitik
hat ihre Folgen bis in die Gegenwart. – Das Buch in Romanform ist
der unbeschwerten Kindheit wie dem Forschen nach eigenen Wurzeln gewidmet.
Die Autorin,
geb. 1981, lebt mit ihrer Familie in Zug und ist als Heilpädagogin
im Kanton Luzern tätig.
Empfohlen von Elisabeth Bardill
Tenna, 24. März 2024
Martin Becker, die Arbeiter
Luchterhand Verlag
301 Seiten
Fr. 30.50 Bitte
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Denkmal für eine verschwundene Arbeiterfamilie
«Eine Familie aus der Vergangenheit. Aus der Kleinstadt, aus dem
Reihenhaus. Das nie uns gehört. Wie alles. Ohne Geld mit geringer
Lebenserwartung. Arbeit taktet die Tage durch, bis sie stottern, bis sie
gezählt sind.» Martin Beckers Erzählung ist eine Liebeserklärung
an ein aussterbendes Milieu, das es in dieser Form nicht mehr gibt. Seine
Erinnerungen gehen in die Achtziger- und Neunzigerjahre zurück und
reichen bis an die Gegenwart heran. Eine Arbeiterfamilie, die sich kleine
Freuden leisten kann: kalorienreiche, kräftige Nahrung, Zigaretten,
Cola-Getränk und einige Tage Ferien an der Nordsee. Das Auto ist
aus dritter Hand und rostig. Der Vater arbeitet im Bergbau, die Mutter
als Schneiderin zuhause. Der Wunsch, eine Familie zu haben, hat sich erfüllt.
Ein Lottogewinn bleibt ein Traum aber man ist einigermassen zufrieden.
Den Roman liest man als Autobiografie. Das Zeitgeschehen wird wie nebenbei
eingewoben. Die Mutter hört Heintje vom Kassettenrekorder singen.
Es kommen ihr die Tränen. Sie blättert am Küchentisch im
Quelle-Versandkatalog mit Sammelbestellrabatt. Helmut Kohl wird Bundeskanzler,
in Tschernobyl explodiert ein Atomreaktor, die Mauer zur DDR fällt.
Die Familie schlägt sich durch, bezahlt regelmässig den hohen
Zins für’s Reihenhaus. Martin Becker schildert schlicht und
schnörkellos über das Leben und Sterben einer Gesellschaftsgruppe,
die nicht in Armut lebt, sich nichts vormacht, da sie sich von Tag zu
Tag auf das Wesentlich konzentriert. Mut und Wehmut, Freude und Verlust,
Geborgenheit in der Kindheit und kritisches Denken im Erwachsenenleben
sind wirklichkeitsnah dargestellt. Sie werfen ein Licht auf Menschen,
die ihre Geschichte nicht aufarbeiteten, keine Bücher lasen, sich
nicht politisch engagierten. In deren kurzen Lebensdauer wegen gesundheitlicher
Schäden, wäre das gar nicht möglich gewesen.
Der
Autor Martin Becker, geboren 1982 in der deutschen Kleinstadt Plettenberg
im Sauerland, hat es stellvertretend übernommen, diesen Leuten eine
Stimme zu geben. Er kommt selber aus der Arbeiterklasse. Heute lebt er
mit seiner Familie in Halle an der Saale. Er schreibt Bücher und
berichtet in Reportagen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Empfohlen von Elisabeth Bardill
Tenna, 17. März 2024
Denise
Schmid, Das Kochbuch der Kittin von 1699
Verlag Hier & Jetzt
288 Seiten Fr. 49.00 Bitte per
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Das Gourmet-Kochbuch
aus dem Jahr 1699
Die Autorin Anna Margaretha Gessner, geborene Kitt verfasste ihr Kochbuch
mit 470 Rezepten handschriftlich. Insgesamt wurden 42 ausgewählte
Originalrezepte ins Buch aufgenommen. «von den Fleisch Spyssen bis
zum eingemacht Zeug» Dieses spannende Dokument befindet sich in
der Zürcher Zentralbibliothek. Über das Leben der «Kittin»
weiss man wenig. Sie kam 1652 an der Zürcher Marktgasse als eines
von 19 Kindern in einer wohlhabenden Familie zur Welt. Sie heiratete in
die angesehene Familie Gessner ein, welche, wie es der Position des Mannes
entsprach, in einem noblen Haus mit Dienstpersonal wohnte. Die Rezepte
offenbaren, was in einem gutbürgerlichen Haushalt zur Zeit des Barocks
auf den Tisch kam. Historikerinnen und Herausgeberinnen haben das Manuskript
in die heutige Sprache und Schrift übertragen. Sie staunten beim
Kochen und Essen über Kombinationen, Düfte und Geschmack der
Speisen. Die Autorin Anna Margaretha Kitt hat an alle gedacht, Feinschmeckerinnen
und Naschkatzen, Fleischtiger und Vegane. Das Kochbuch der Kittin ist
eine kulinarische Erlebnisreise sondergleichen. Es vermittelt eine elementare
und erstklassige Kochkunst: eine Suppe mit Krebsen aus der Limmat, eine
Pastete von Aal oder Schnecken mit Lauch, eine Komposition aus Spargeln,
Gartenbohnen und gekochten Gurken zu Krautspätzli mit Morcheln. Das
Fondue ist eines der Rezepte, die im Buch vorkommen. Ausser dem Wild hielten
weitere Nahrungsmittel, die sich die arme Bevölkerung nicht leisten
konnte, Einzug in die elitäre Kitt’sche Küche, die damals
schon globalisiert war. Doch dazwischen kommen ganz einfache Gerichte
vor: «Ein durten von milch und brodt», heute heisst es Pfannkuchen
aus Milch und Brot. Jedoch entgegen dem landläufigen Vorurteil vom
puritanischen Zürich wurde in den Haushalten der Oberschicht sehr
wohl Luxus zelebriert.
Empfohlen von Elisabeth Bardill
Tenna, 30. März 2024
Elisabeth Bardill
Elisabeth Bardill-Meyer kam 1941 im aargauischen Auenstein zur
Welt und wuchs danach in Küsnacht am Zürichsee auf. Nach der
Ausbildung zur Kindergärtnerin an der Neuen Mädchenschule Bern
war sie in Bubendorf BL tätig. Nach der Heirat mit einem Bündner
Lehrer zog sie nach Tenna ins Safiental und später nach Schiers.
Sie hat vier Söhne und fünfzehn Enkel. Während vieler Jahre
unterrichtete sie im Bildungszentrum Palottis Schiers in den Fächern
Erziehungslehre, Werken und Gestalten. Seit 2004 lebt Elisabeth Bardill
mit ihrem Mann wieder in Tenna. Sie arbeitet freischaffend journalistisch
für Zeitschriften, Zeitungen wie auch regelmässig für die
„Terra Grischuna“, schreibt Bücher und gibt diese selber
unter „edition bardill“ heraus. Es handelt sich stets um Porträts
von Menschen in Graubünden.
Elisabeth Bardill, Männer und Frauen verwurzelt
in Graubünden
Edition Bardill
Fr. 30.00
bitte
mit Mail bestellen
Elisabeth Bardill, Bauernstolz und Bauerntum
Edition Bardill, 2008 Fr. 35.00 bitte mit Mail bestellen
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